„Wie waren Harry Styles (und Wet Leg)?“

Harry Styles im Ernst-Happel-Stadtion ‚Matilda‘ singend

„Wie waren Harry Styles (und Wet Leg)?“

Der authentischste Superstar im Game und die neue Lieblingsband vieler jubelnder Fans holten im Ernst Happel Stadion die relevanten Zielgruppen ab.

Wet Leg, trotz des Sounds alles gut

„Du zahlst 110 (einhundertzehn) Euro, nur um dir die Vorband anzusehen? Du bist ja komplett hinig im Schädel,“ sagte mir eine Freundin, nachdem ich ihr den Grund für den Erwerb von Harry Styles Karten erklärt habe. Die Vorband allerdings ist niemand geringerer als die It-Band Wet Leg von der Insel Wight. Sie sind unter anderem bekannt für die Texte „On the Chaise Longue, On the Chaise Longue, On the Chaise Longue, All day long, On the Chaise Longue” oder “Oh my God, Life is hard, Credit card, Oh No.”

Wet Leg vereinen klassisch-moderne Indierock-Musik mit Songtexten, die nicht nur den Nerv der Zeit treffen, sondern diesen lästigen Nerv mit postironischem Bewusstsein – aber sowas von – durchfetzen. Dafür zahlt man gerne mal mehr als dreißig Euro für ein Ticket. Nach einem Jahr voller Rechtfertigungen aufgrund meiner finanziellen Lebensentscheidungen ist es endlich so weit: Wet Leg LIVE. Die Frontsängerin Rhian Teasdale trägt auf der Bühne eine „I speak fluent sarcasm“-Kappe und ich frage mich, ob Teasdale weiß, dass sie gerade in der sarkastischsten Stadt der Welt ein Konzert spielt.

Gleich der erste Song ‚Being In Love‘ holt mich in die Realität der Musikindustrie zurück. Der Sound ist so unsagbar unerträglich, dass sogar die Laienkonzertgeher*innen die Gesichter verziehen. Man hört nichts ausser die Stimme Teasdales, das Crashbecken des Schlagzeugs und die Raschelgeräusche der Ohropax-Plastikverpackungen. Dies haltet die eingefleischten Wet-Leg-Fans (mich) nicht davon ab, eine geile Zeit zu haben. Das Publikum ist sehr lieb, so wie eine Mutter, die mit der jüngsten Teenie-Tochter die rebellischen Bühneneskapaden der ältesten Tochter lächelnd zur Kenntnis nimmt.

Wet Leg spielen alle Hadern, von ‚Angelica,‘ über ‚Ur Mum‘ und ‚Too Late Now‘ bis ‚Chaise Longue.‘ Nach gut einer Stunde ist es vorbei und die relevanten Zielgruppen (ich) fühlen sich sehr abgeholt. Jetzt schwappt das Gefühl des „Main-Characters“ auf alle anderen Personen im Stadion über. Gleich geht’s los. Aus einem Jahr wurden nurmehr wenige Minuten Wartezeit. Zum ersten Mal in meiner Konzertbesuchskarriere singt das Publikum bei den Songs aus der Dose mit. Seit Live-Aid 1985 im Wembley singt niemand so schön ‚Bohemian Rapsody‘ von Queen mit.

Harry Styles, trotz des Mainstreams alles real (Englisch ausgesprochen)

Es wird finster. Alle schreien. Kribbeln, soweit das Auge fühlt. Visuals auf den gigantischen Bildschirmen, die an Cartoons der 70er-Jahre erinnern. Zahlreich hochgehaltene Handys und hemmungsloses Gejubel. Jetzt geht’s los. Die Band leitet das Eröffnungslied ein und ich pack mein Leben nicht. Was passiert gerade? Es passiert alles sehr schnell und sehr langsam gleichzeitig. Rund um mich herum steht nichts still, alle hüpfen, alle weinen, alle lassen alles raus. So ein Konzertbeginn habe ich selten erlebt. Auf der Verehrung des hauptsächlich weiblich gelesenen Publikums schwebend tritt Harry Styles auf die Bühne und beginnt seine Show, die ihresgleichen sucht. ‚Daydreaming‘ höre ich zum ersten Mal und habe überall Gänsehaut.

Nur weil sich die Aufregung nach ein paar Songs bei mir gelegt hat, heißt es nicht, dass es bei allen anderen der Fall ist. Mit der Devise „NUR HITS!“ werden die Top-Lieder zweiten Ranges zelebriert. Bei ‚Golden‘ und ‚Adore You‘ ist nur der Gesang des Fans zu hören. Harry läuft mit dem Mikrofon voran von einem Bühnenende zum anderen und lässt das Publikum seine Arbeit machen. Zwischen den Songs fragt er regelmäßig, ob eh alles passt und ob wir alle gut drauf sind. Oh ja, das sind wir.

Wie auf den TikToks zu den bisherigen Konzerten, lädt Styles auch im Ernst-Happel-Stadion die Fans auf ein Tratscherl ein. Er sucht sich aus der schier unendlichen Anzahl an liebevoll beschrifteten Kartons seine Lieblingsaussagen aus. Umjubelt wird er für Aussage, dass ihn 99 Prozent der Männer ebenfalls hassen würden, so wie es bei Michelle aus der ersten Reihe der Fall ist. Auf einem anderen Plakat steht die Bitte an Harry, dass er dem Fan Vicky bei ihrem Coming-Out hilft. Das tut er auch mit einem spontan komponierten Song, sehr zur ekstatischen Freude Vickys. 

Nach der Ballade ‚Matilda‘ ist bei mir die Luft ein wenig raus. Das Konzert entwickelt sich zu einem normalen Konzert in einem normalen Stadion. Der Sound ist wesentlich besser als bei Wet Leg, was höchstwahrscheinlich am Fundament einer Tonart liegt, das zurecht laute Publikum. Für mich mag es mittlerweile ein bisschen langweilig sein, aber das Publikum heizt die Stimmung noch immer an wie nach dem ersten Song. Doch dann packte Harry seine harten Geschütze aus.

Aus dem Nichts fängt der Song ‚What Makes You Beautiful‘ an und ich habe das Gefühl, dass der Band der Strom ausgegangen ist. Denn jetzt höre ich wirklich nurmehr das Publikum schreien. Nicht singen, schreien. Die Gefühlsausbruche, die ich am Anfang der Show hatte, erleben die richtigen Fans jetzt. Fassungsloser Zustand der Trance, Gänsehaut und ein angeschlagenes Stimmorgan. Das ganze Ernst Happel Stadion wird zum Kinderzimmer zigtausender Fans. Man weiß aber, dass es jetzt langsam, aber sicher Richtung Schluss geht. ‚Watermelon Sugar‘ und ‚Fine Line‘ beenden das Konzert und leiten das obligate Zugaben-Theaterstück ein. Die A-Liste der Hits haben sich Styles und seine sehr gut eingeübte Band für den Schluss aufgehoben. ‚Sign of the Times‘, ‚As it Was‘ und ‚Kiwi‘ als perfekte Draufgabe.

Die Zielgruppen in Form von sehr leidenschaftlichen Teenie-Fans und alle anderen wurden höchstprofessionell abgeholt. Ja, hinter dem Konzert steckt eine perfekt inszenierte Popindustrie, wo fast nichts dem Zufall überlassen wird. Ja, die Konzertkarten sind sehr teuer und generell die Preise (25 € für eine kleine Badetasche, wo „Treat People with Kindness“ draufsteht und 6€ für ein Eistee Pfirsich) sind fernab jeder Vernunft. Nach einer jahrzehntelangen Bühnenerfahrung kennt man auch schon die Schmees mit dem Publikum. Das muss man sich im Hinterkopf behalten. Doch an diesem Abend wurden um die 60.000 (!) Personen aus ihrem Alltag entrissen und um eine Kernerinnerung reicher. Sowohl Vicky, Michelle als auch alle anderen im Stadion.